Chondrodysplasie/Chondrodystrophie

Kurzbeinigkeit ist eines der definierenden Merkmale für viele Hunderassen.
Dabei handelt es sich aus tiermedizinischer und wissenschaftlicher Sicht bei den kleinen Gehwarzen von Corgi, Dackel oder Basset eigentlich um eine Entwicklungsstörung:
Chondrodystrophie und Chondrodysplasie beim Hund.
Und auch Hunderassen, bei denen einem das auf den ersten Blick nicht ganz so extrem auffällt, sind von Kurzbeinigkeit betroffen. Darunter zum Beispiel die französische Bulldogge und viele Jagdhunde wie Terrier und Spaniels.
Aber wie kommt es eigentlich zu diesem Phänomen? Was geht schief, damit der Dackel seine Dackelbeine bekommt?

Chondrodysplasie und Chondrodystrophie beim Hund

Kleine Hunde haben logischerweise kürzere Beine als große Hunde.
Aber man kann bei zwergwüchsigen Hunden unterscheiden zwischen proportioniertem Kleinwuchs (z.B. beim Sheltie oder Zwergpinscher) und dem disproportionierten Kleinwuchs bei den wirklich tiefergelegten Hunderassen (z.B. Corgi oder Dackel).

Bei Zwergwuchs und Kurzbeinigkeit handelt es sich also um verschiedene Phänotypen, die sich auch in ihren genetischen Ursachen unterscheiden.
Ein Hund kann zwergwüchsig und kurzbeinig sein oder eben nur eins von beidem.
Bei weit über 20 Hunderassen zählt eine mehr oder weniger ausgeprägte Kurzbeinigkeit zu einem der laut Zuchtstandard definierenden Merkmalen.

  • Alpenländische Dachsbracke
  • Basset Griffon Vendéen Petit
  • Basset Hound
  • Bolonka Zwetna
  • Bichon frise
  • Cairn Terrier
  • Chihuahua
  • Coton de Tulear
  • Dackel
  • Glen of Imaal Terrier
  • Dandie Dinmont Terrier
  • Glen of Imaal Terrier
  • Havaneser
  • Malteser
  • Norwich Terrier
  • Podengo Pequeno
  • Pekinese
  • (Niederläufige) Russell Terrier
  • Schweizerischer Niederlaufhund
  • Scottish Terrier
  • Shih Tzu
  • Skye Terrier
  • Tibet Spaniel
  • Västgötaspets
  • Welsh Corgi Cardigan
  • Welsh Corgie Pembroke
  • West Highland White Terrier
  • Yorkshire Terrier
  • Jack Russell Terrier

Auch bei anderen Hunden fällt sofort ins Auge, dass manchmal alle oder zumindest einige Vertreter deutlich länger als hoch sind:

  • Bayerischer Gebirgsschweißhund
  • Beagle
  • Cavalier King Charles Spaniel
  • Cocker Spaniel
  • Clumber Spaniel
  • Deutsche Bracke
  • English Springer Spaniel
  • Englische Bulldogge
  • Entlebucher Sennenhund
  • Französische Bulldogge
  • Zwerg- und Toypudel

Der Ursprung kurzbeiniger Hunderassen

Die Beschreibung kurzbeiniger Hunde geht schon eine sehr lange Zeit zurück. Es ist wahrscheinlich, dass die entscheidende Mutation also schon relativ alt ist und nur durch züchterische Selektion dieser Kuriosität erhalten geblieben ist.
Bei der gezielten Zucht von niederläufigen Jagdhunden ging es lange Zeit primär um Leistung und nicht um Schönheit, Rassereinheitswahn oder Zuchtstandard.
Bis vor nicht allzu langer Zeit gab es also einen regen Austausch von Genmaterial zwischen Hunderassen.
Wobei nicht auszuschließen ist, dass die verantwortliche Mutation gleich mehrmals in der Geschichte des Haushundes aufgetreten ist.
Man kann aber davon ausgehen, dass fast alle kurzbeinigen Hunde mehr oder weniger miteinander verwandt sind und die Kurzbeinigkeit auf einen oder wenige gemeinsame Vorfahren zurückgeht.

Was passiert bei Chondrodysplasie und Chondrodystrophie?

In der normalen Entwicklung bei Hunden verlängern sich die Knochen der Beine im Wachstum durch die Bildung von neuen Knorpelzellen in den so genannten Wachstumsfugen oder Epiphysenfugen.
Diese Knorpelzellen werden von den Knochenenden (Epiphysen) her nach innen geschoben, sterben ab und dienen als Baumaterial für die wachsende Knochenmatrix.
Vereinfacht gesagt: Die Beine werden länger.
Dieser Vorgang läuft bei normal gebauten Hunden bis zu Beginn der Pubertät, erst dann ebbt das Längenwachstum langsam ab.
Die Entwicklung des jungen Skeletts wird dabei von einem komplizierten Netzwerk an noch nicht vollständig erforschten Prozessen gesteuert. Alles muss am richtigen Ort sitzen und zum richtigen Zeitpunkt in die richtige Richtung wachsen.

Bei Hunden mit Chondrodysplasie bzw. Chondrodystrophie ist diese Entwicklung gestört.
Chondro- bezieht sich auf Knorpelgewebe.

Eine Dysplasie ist eine abnormale Entwicklung (z.B. ist bei einer Hüftgelenksdysplasie die Hüftpfanne nicht richtig entwickelt). Man kann Chondrodysplasie also einfach allgemein als abnormales Wachstum des Knorpelgewebes des jungen Hundes bezeichnen.

Eine Dystrophie beschreibt hingegen eine Entwicklungsstörung durch degenerative Prozesse. Chondrodystrophie bezeichnet also ebenfalls einen von der Norm abweichenden Fehlwuchs des Knorpelgewebes, der beim Hund aber oft mit weiteren Degenerationen einhergeht.
Das Knorpelgewebe der Wachstumsfugen der langen Röhrenknochen verknöchert frühzeitig. Die Beine können dann nicht mehr in die Länge wachsen, der Hund bleibt mehr oder weniger kurz- und oft auch etwas krummbeinig.
Man spricht auch von asymmetrischem Zwergwuchs.
Vielfach beenden Elle und Speiche auch versetzt das Wachstum, so dass es zum „Radius Curvus“ kommt: Nach innen gekrümmte Vordergliedmaßen mit nach außen gestellten Füßen (von den Krallen reden wir mal besser nicht…).

Genetische Ursachen für Chondrodysplasie und Chondrodystrophie beim Hund

Es gibt einige Erbkrankheiten, die auch zu kurzen Beinen führen können.
So gibt es z.B. einen Gentest für eine spezielle Form der Chondrodysplasie beim Karelischen Bärenhund, Norwegischen Elchhund und Chinook. Bei Arbeitslinien des Labrador Retrievers ist eine weitere Form der skelettalen Dysplasie bekannt. Und auch Hunderassen wie Schäferhunde oder Pudel leiden unter ihren eigenen Formen an Zwergenwuchs, die zu einer ganzen Reihe von Wachstumsstörungen führen.

Mutation bei kurzbeinigen Hunderassen

Bei vielen kurzbeinigen Hunden wird die Beinlänge natürlich nicht als Mangel angesehen.
Es ist sogar hochgradig erwünscht, dass alle Vertreter bestimmter Hunderassen gleich lange kurze Beine haben sollen.
Und man weiß mittlerweile, dass die Beinlänge bei diesen Hunden logischerweise auch eine genetische Ursache hat, aber etwas komplizierter gestaltet ist:
Zur Überraschung der Forscher, die das Phänomen 2009 untersuchten, fand man bei kurzbeinigen Hunderassen aber keine Mutation in einem der vorhandenen Gene.
Hunde, bei denen der Zuchtstandard kurze Beine fordert, besitzen stattdessen eine oder mehrere zusätzliche Kopien des FGF4-Gens, das bei normalen Hunden eigentlich nur einmal vorkommen sollte.
Das FGF4-Gen enthält den Bauplan für ein Protein, das als Wachstumsfaktor (fibroblast growth factor 4) an der normalen Skelettentwicklung beim Hund beteiligt ist.
Hunde mit mehreren FGF4-Genen produzieren tatsächlich mehr dieses Wachstumsfaktors.
Man weiß tatsächlich nicht ganz genau, warum mehr Wachstumsfaktor im Endeffekt für weniger Wachstum sorgt.
Eine Theorie besagt, dass durch die erhöhte Konzentration dieses Proteins entscheidende Prozesse in der embryonalen Entwicklung des Hundes zu früh angeschaltet und vorzeitig beendet werden.
Frühstart und Fehlzündung im Längenwachstum der Röhrenknochen sozusagen.
Bei kurzbeinigen Hunden sind momentan zwei verschiedene Orte im Genom bekannt, an denen man eine zusätzliche Kopie des FGF4-Retrogens finden kann (bei mehr Interesse findest Du beide Studien unten in den Quellen).
» Eine Kopie von FGF4 auf Chromosom 18 findet man besonders häufig bei  kleineren Hunderassen mit chondrodysplastischem Körperbau wie z.B. Cairn Terrier, Pekinesen, Malteser oder Westie.
Westie

» Eine Kopie von FGF4 auf Chromosom 12 findet man häufiger bei größeren Hunderassen mit auffällig rechteckigem Körperbau wie Beagle, Frenchie, Entlebucher Sennenhund oder den kleinen Pudel-Varietäten.
Und auch bei Hunderassen, die nur manchmal einen –huch– etwas kurzbeinigen Rassevertreter hervorbringen, wird diese Mutation verantwortlich gemacht, z.B. beim Chesapeake Bay Retriever, Nova Scotia Duck Tolling Retriever oder dem Portugiesischen Wasserhund.
Beagle

» Und eine Kopie von FGF4 jeweils auf Chromosom 12 und auf Chromosom 18 findet man vor allem bei Hunden mit sehr ausgeprägter Kurzbeinigkeit. Der Effekt scheint sich also zu verstärken, wenn ein Hund beide Mutationen trägt:

  • Alpine Dachsbracke
  • Basset
  • Dackel
  • Dandie Dinmont Terrier
  • Schweizerischer Niederlaufhund
  • Skye Terrier
  • Welsh Corgi Cardigan
  • Welsh Corgie Pembroke
  • Welsh Corgi Pembroke


Allein nach der Optik kann man die Mutationen bei verschiedenen Hunderassen allerdings nicht voneinander abgrenzen.
Einerseits sind die Übergänge zwischen verschiedenen Körperformen sehr fließend. Zweitens handelt es sch um ein nicht vollständig dominantes Phänomen (nicht jeder Träger ist gleichermaßen betroffen).
Außerdem kommen bei vielen kurzbeinigen Hunderassen gleich beide Mutationen in einer mehr oder weniger hohen Häufigkeit vor. Das erklärt vielleicht, warum einige Kleinhunde halbwegs Bein zu haben scheinen und andere Hunde der gleichen Rasse nur noch Stummelbeinchen.

Qualzucht? Kurzbeinigkeit und Gesundheit

Mittlerweile ist bekannt, dass eine Kopie von FGF4 auf Chromosom 12 mit einer stark erhöhten Anfälligkeit für Bandscheibenprobleme (Hansen´s Type I intervertebral disc disease, IVDD) der Trägerhunde einhergeht.

Problem dabei ist nicht nur etwa das ungünstige Längen-Höhen-Verhältnis, sondern tatsächlich eine Verknorpelung der Bandscheiben in jungen Jahren.
Weitere mit einer Chondrodystrophie assoziierten Probleme sind Kieferdeformationen oder Zahnfehlstellungen.
Aber nicht jeder Hund mit dieser Mutation ist von allen Symptomen gleichermaßen betroffen, es scheint sich hier um ein dominantes Phänomen mit unvollständiger Penetranz zu handeln.
Kurzbeinige Hunde mit ausschließlich der FGF4-Kopie auf Chromosom 18, aber ohne die FGF4-Kopie auf Chromosom 12, scheinen vom erhöhten IVDD-Typ1-Risiko nicht betroffen zu sein, sind aber  durch ihren ungünstigen Körperbau dennoch oft schwer benachteiligt im Leben.
Gerade Dackel oder Bassets werden durch die massive Showzucht der letzten Jahrzehnte immer länger und immer stummelbeiniger. Bei manchen Hunden sind kaum mehr Gehwarzen vorhanden, meint man.
Speziell für Hunde, die gleich beide Mutationen tragen, wird das Risiko im Laufe des Lebens an orthopädischen Problemen zu leiden natürlich insgesamt nochmal höher.
Dackelhalter wissen schon lange, dass ihre Lieblinge nicht am Geschirr in die Luft gezogen werden sollten, nicht springen dürfen und auch Treppen besser meiden sollten.

Da bei vielen niederläufigen Hunderassen tatsächlich beide Mutationen mit einer gewissen Frequenz im Genpool vorkommen, sind hier die Züchter gefragt über lange Sicht planvoll vorzugehen.
Durch gezielte Auswahl der Zuchtpartner könnte man sich züchterisch hin zur nicht mit einem IVDD-Typ1-Risiko belasteten Form der Kurzbeinigkeit bewegen, ohne dabei komplett auf den erwünschten Phänotyp verzichten zu müssen.
Bis dahin bleibt Züchtern dieser Hunderassen vorerst nicht viel anderes übrig als ein besonders kritisches Auge auch auf IVDD-Vorfälle in der Verwandtschaft ihrer Zuchttiere zu haben und sich mit dem Gedanken anzufreunden eben ein bißchen mehr Bein zu riskieren.
Kurzbeinigkeit ist außerdem in einem gewissen Maße züchterisch formbar.
Wenn man es geschafft hat die Beine mancher Hunde fast komplett verschwinden zu lassen, könnte man diesen Effekt durch ein Umdenken vielleicht noch umkehren. Die Dackel vor 50 Jahren hatten ja eigentlich ausreichend kurze Beine.
Zu der Ausrede, dass Kurzbeinigkeit förderlich für die Jagdfähigkeit und allgemeine Struktur eines Hundes wäre, möchte ich anmerken: Man kann es auch übertreiben!
Die meisten ausschließlich nach Show-Kriterien gezüchteten Hunde gehen schon seit Generationen nicht mehr am Dachs arbeiten oder irgendeiner ihrer bei Rasseschöpfung angedachten Bestimmungen nach.
Und wer einen gesunden, agilen und wendigen Arbeitshund sucht, kauft schon lange nicht mehr beim reinen Showzüchter.
Nur mal so zum nachdenken…
Abbildung „Welsh-Corgi“ in „Mein Hund“ (Verlag Otto Walter Olten, 1956)—- Heutiger Corgi

Und zu beachten gilt dieses Wissen auch bei der Kreation neuer „Edelmixe“ aus Elterntieren, die ein erhöhtes IVDD-Typ1-Risiko aufweisen. Man denke z.B. an die unzähligen Hybrid-Verpaarungen mit Zwergpudeln oder die zunehmend beliebten Cavachons.
Es wäre doch blöd, wenn man ungewollt und vollkommen unnötigerweise Schadgene in Designer-Hunde und Mischlingspopulationen einschleust, obwohl das vermeidbar wäre.
Beim Rest muss jeder selbst entscheiden, ob es wirklich ein arg extrem gebauter Hund sein muss. Oder ob man sich doch lieber auf die Suche nach einem Hund mit eher moderatem Körperbau begibt.
Denn es gibt sie bestimmt noch irgendwo, die Züchter von halbwegs vernünftig gebauten Dackeln und athletischen Corgis.
Eine Bitte zum Schluss: Finger weg von kurzbeinigen Katzen (Munchkin), das muss echt nicht!